Sonntag, 18. Januar 2015

Über Denken, Lesen und Wirklichkeit

Über Bücher und das Lesen

Eine Lesende

Es ist 21:37, nein, es ist noch nicht 21:37. Mein Buch lege ich aus der Hand, stehe von meinem Lesesofa auf, das Buch wird zugeklappt, ziehe eine Jacke und Schuhe an, ein kurzer Blick ins Portemonnaie und ich begebe mich zur Abfahrtsstelle des Busses Richtung Innenstadt. Er wird, wie immer, pünktlich abfahren und ich, wie immer zu rechtzeitig dasein, aber der Busfahrer läßt die Fahrgäste an dieser Endstelle schon früher einsteigen.
Und dann ereignet sich da ein kleines Ritual, das uns, darüber nachdenkend, erste Aufschlüsse über das Buch und das Lesen erschließen könnte. Ein junges Liebespaar-eine letzte zärtliche Umarmung, dann entwindet sich die junge Frau der Umarmung, ein letzter Blick hin zum Freund, dann steigt sie in den Bus. Sie sitzt noch nicht, da ist ihre Handtasche schon geöffnet, der angelesene Roman in ihren Händen und: sie beginnt zu lesen. Das Titelbild verrät: ein Liebesroman, einer dieser viel geschmähten „Groschenromane“. Entrückt ist unsere Leserin, verträumt liest sie...und ohne noch mal aufzuschauen ist sie nun eingetaucht in diesen Roman. Bis daß ihre Aussteigstation kommt und sie den Bus verläßt. Ich selbst fahre eine Station weiter, gehe zu meinem Stammlokal, genehmige mir dort ein gutes Bier und beschließe, über das Gesehene nachzudenken. Eine Zentralfrage erhebt sich mir dabei: Wo bin ich, wenn ich lese?
Sie saß im Bus, aber im Geiste war sie ganz woanders. Vulgär ist die Vorstellung, daß Lesen eine Kompensation für das reales Leben wäre. Liebesromane lese, wer (hauptsächlich Frauen), wer eben in Ermangelung gelebter Liebe zum Ersatz einer fiktiven Liebe greife. Das Reale wäre die wirkliche Liebe in der sogenannten Wirklichkeit und dadrüber schwebten dann fiktive Lebensräume, in die sich der Lesende hineinnehmen ließe, um in ihnen das Wirkliche zu verdrängen oder das zu finden, was das wirkliche nicht böte. Der Mensch als ein in Multiversen lebende Existenz.Aber nur die eine, die Wirklichkeit genieße das Privileg, wirklich wahr zu sein, alle anderen wären Imaginationen. Wie das Verhältnis der imaginierten zu der wirklichen Welt sich gestalte, ist dann eine zentrale Frage der Ästhetik. Siegelt sie etwas wieder oder drückt sie etwas aus und wie verhält sich das Imaginierte zur Wirklichkeit im Sinne eine Zweckbestimmung: soll aufgeklärt werden, oder unterhalten?
Aber bleiben wir noch bei unserer Leserin. Ist die von ihr gelesene Liebesromangeschichte eine Wiederspiegelung realer Liebengeschichten-also wäre das Kriterium der Qualität der Literatur das des Realistischen, oder drückt sie ein Ideal aus, das normativ sich verhält zu den realen Liebesgeschichten des Lebens? Dann wäre gerade der Realismus eine Verkennung des ideelen Charakters des Kunstwerkes. Ist die Wirklichkeit die Norm für die Kunst oder ist das Ideele die Norm für die Kunst, sodaß das Wirkliche das zu kritisierende wäre.
Liest sie, um eine ideele Vorstellung von gelebter Liebe zu erleben, um von da aus ihr Leben zu gestalten- oder sucht sie im Gelesenen nur die Wiederholung des wirklichen Lebens der Liebe?
Das einfache Kommunikationsmodell stellt sich das so vor: der Autor will etwas mitteilen, ein Etwas, das evtl vorsprachlich gedacht oder empfunden, er in Sprache umsetzt und dann verschriftlicht zum Text, so daß der Lesende den Text hin zur Ursprungsintention des Autoren hin zurückkonstruiert: Was wollte mir der Autor damit sagen? Das Eigentliche wäre so das Innere des Autoren als Aussageintention und das Werk, der Text nur das Medium seiner Vermittelung. Der Text drückt etwas Vortextliches aus. Ist das Sein des Textes also hinter dem Text als unter ihm Verborgenes?
Ein heiliger Text wäre so nur ein Text, der das Heilige als ein von ihm Verschiedenes zum Ausdruck bringt- ja, er sollte eigentlich verschwinden um der Idealität der Unmittelbarkeit zum Heiligen willen.
Aber der Lesende hat nur noch den Text. Der Autor hat den Text wie eine Flaschenpost ins Meer geworfen und er blieb zurück, während der Text sich von ihm emanzipiert. Er wird zu etwas dem Autoren und seinen Intentionen gegenüber Selbstständigem. Und als solcher ermöglicht er erst dem Lesenden Lektüren, die ihm zu Erlebniswelten werden.
Was ist die Kraft der Buchstaben, zu Worten und Sätzen und Satzkompensationen komponiert, daß sie uns Welten schaffen, in denen dann der Lesende leben kann im Akt des Lesens?
Was hat die imaginäre Satzwelt (der Satz als kleinste Sinneinheit eines Textes) mit der Realwelt gemein, was unterscheidet sie?
Wenn ich urteile, das ist ein wahrer Freund, daß ein rechter Staat, dann ist dies Urteil wahr, wenn der so beurteilte Freund der Idee des Freundes entspricht, wie der Staat der Idee des Staates. Eine ideele und eine wirkliche Welt werden in diesen Urteilen in Beziehung gesetzt. Urteile ich, das sei ein Baum, dann ist diese Urteil nur wahr, wenn das so begriffene Etwas eine Individuation der Idee des Baumseins, der Idee des Baumes ist. Begreifen heißt, etwas unter seinen ihm zukommenden Begriff zu subsumieren und diese Subsumation ist nur wahr, wenn genetisch gesehen, das Subsumierte wirklich eine bestimmte Realisation seiner Idee ist.
Partizipiert die Kunst am ideelen Sein und tritt so der Wirklichkeit gegenüber? Könnte so die Kunst wahrer als das Wirkliche sein? Die Idee des Kreises und der Kugel findet im Wirklichen nie ein Etwas, das exakt dieser Idee entspricht-sodaß uns das Wirkliche nur als Annäherung an die Idee vorkommt, aber die Idee das Wahre und das Wirkliche das Defizitäre ist.
Unserer Lesenden ist ja die Idee der Liebe im Roman das eigentlich Wahre und sie hofft, das im Wirklichen realisieren zu können. Erst die Ernüchterte wird dann, immer mehr Abstriche vom Ideelen machend, auch ihr Glück in einer wirklichen Liebe finden können. Die Extatisierte lebt im Lesen noch das Wahre.
Wenn es das Wahre,das Gute und das Schöne gibt, so erschlösse sich dies auch in der Kunst-nicht nur in ihr- aber dann in einer bestimmten Weise- aber was ist diese bestimmte Weise, in der sich diese Trias in der Kunst vergegenwärtigt?
Wir lesen nicht nur Romane-es gibt auch Sachtexte. Lesen wir Sachtexte anders als Romane? Ja, aber, was macht dann den Unterschied aus? Kaprizieren wir uns auf die Gattung des philosophischen Textes mit dem Vorurteil, daß gerade diese Textgattung das Wesen des Sachtextes uns erschließt. Zu dem jetzigen Zeitpunkt der Darlegung kann es nur ein Vorurteil sein. Im philosophischen Text wird uns das Ganze von seinem Grund her und zu seinem letzten Ziel hin begriffen dargelegt: es ist das Ganze, die Totalität im Begriffensein. Jede andere Wissenschaft begreift nur ein Teil des Ganzen und ist so dieser Wissenschaft subsumiert.Sie begreift Teile in ihrem mannigfaltigem Reichtum, die Philosophie als einzig konkrete Wissenschaft aber das Ganze als Ganzes. In philosophischen Texten lesen wir die Welt als begriffene, die wir so selbst nicht erleben. Wir erleben unser Leben in der Welt, begreifen es aber nicht. Und so gesehen ist der philosophische Text wahrer als das von uns selbst wahrgenommene Leben in seiner Unbegriffenheit.
Die Sprache ist dem Wahren näher, als wir es uns bewußt sind, wenn wir sprechen.
Die Aussage: „Das ist ein Baum“ meint im sinnlichen Bewußtsein, daß damit das eine Einzeletwas gemeint ist, was damit benannt wird. Die Aussage transzendiert aber diese Naivität der Sinnlichkeit: in der Aussage steht der Begriff des Baumes und das so Begriffene wird in dieser Sprachaussage begriffen als etwas Komplexes: als einen besonderen Fall des allgemeinen Seins der Idee des Baumseins. Aber das übersteigt schon das sinnliche Bewußtsein! Sähe es das ein, begönne es zu philosophieren. In der Sprache ist so mehr Wahrheit als im Bewußtsein des Sprechenden.
Der geschriebene Text ist so wahrer als das Bewußtsein des Autoren in seinem Meinen, was er ausdrücken will. Das ist der Quellgrund von der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn der Heiligen Texte.
Christlich theologisch ergibt sich dies aus dem Johannesevangeliumprolog. Daß der Anfang der göttliche Logos ist, daß Alles durch den Logos ist, bedeutet, daß das Sprachliche, Vernunft wird im Logozentrismus sprachlich gedacht, der Grund für Alles ist, sodaß Alles in der Struktur der Sprache ist und Alles so auch wieder sprschlich-begrifflich begriffen werden kann, denn der Logossprsache des Denkens entspricht die durch den Logos geschaffene und geformte Welt.









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