Montag, 27. März 2017

Irritierendes: ein paar Notizen zu einem Kunstwerk

Spontan stellen wir uns ein Kunstwerk so doch vor: Ein Künstler will anderen durch sein Kunstwerk etwas mitteilen. Dem entspricht die allseits bekannte Lehrerfrage, was denn wohl der Künstler uns durch dies sein Werk mitteilen wollte. Erstaunlicherweise gibt es dann auf diese Frage so viel verschiedene Antworten, wie Schüler sich ins Unterrichtsgespräch "einbringen" und der Lehrer beurteilt dann die diversen Antworten in Regel nur damit, daß er die Begründungen auf ihre innere Konsistenz hin überprüft. Irgendwie scheinen Kunstwerke nicht das optimale Transportmedium für Mitteilungen zu sein, wenn jeder Rezipient eine andere Botschaft aus dem Kunstwerk herausliest. 
Friedrich Hölderlin protestierte schon in seinem "Hyperion" 1797 dagegen, indem er schrieb:" Aber ich fürchte,die einen werden es lesen, wie ein Compendium, und um das fabula docet sich zu sehr bekümmern". (Vorrede, zitiert nach:Bibliothek der Erstausgaben, 2005, S.7) Das, was die Fabel lehrt, das wäre dann der Gehalt dieses Briefromanes, den der Autor zuvor sich klar vor Augen gestellt hätte, um dann das in einer Fabel auszudrücken, hoffend, daß zukünftige Leser die Fabel richtig begreifen, indem sie nun wieder die Lehre aus der Fabel herauskristallisieren.
Der Künstler verschlüsselte also seine Lehre einzig zu dem Zweck in eine Fabel, damit der Leser die Fabel wieder entschlüsselt, um die ursprüngliche Lehre als Botschaft der gelesenen Fabel zu rekonstruieren. Nur: warum dies Verschlüsseln, hätte der Künstler da nicht gleich die Lehre kommunizieren können? Zudem: So gesehen ist das ganze Kunstwerk ja überflüssig, wenn es nur auf das ankommt, was die Fabel lehrt!
Unser spontanes Verständnismodell des Kunstwerkes, das von: Sender, Sendung und Empfänger scheint hier zu kurz zu greifen.
Nehmen wir ein anderes Bild: Jemand wirft eine Flaschenpost ins Meer, hoffend, daß sie Leser findet. Die Autorenintention bleibt wie der Autor am Ufer stehen und der Text in der Flasche emanzipiert sich von der Autorenintention wie die Flasche sich vom Ufer entfernt.
(vgl dazu den Essay von Roland Barthes zum Tode des Autors). Nur insoweit die Autorenintention in dem Text aufgehoben ist, ist sie noch im Kunstwerk präsent, sonst ist sie etwas plusquamperfektisch Abgeschlossenes, das wohl in einer Biographie des Autoren von Bedeutung ist, nicht aber mehr für das Kunstwerk selbst. 
Ist nun das Kunstwerk, etwa der Briefroman: "Hyperion" ein in sich abgeschlossenes Kunstwerk, das sich von seinem Autor emanzipiert hat. Es wäre dann etwas rein Objektives, das nur noch vom Leser so zu lesen ist, wie es ist. Das Gelesenwerden wäre so für den Roman etwas völlig Gleichgültiges: Er ist, wie er ist und so nur will er gelesen werden.
Aber werden die Buchstabenreihen nicht erst durch das Lesen zu einem ganzen Roman? Was ist denn ein Roman anders als viele Buchstaben, Satzzeichen und Zahlen? Daß daraus ein Roman wird, wird er das nicht erst durch das Lesen? Lesen ist doch wohl etwas anderes, als wenn man nur das Buch aufschlägt und sieht, was da drinnen ist? Ist nicht jedes Lesen immer schon ein Interpretieren und Deuten des Gelesenen?
Abstrakter formuliert: Gehört die Rezeption eines Kunstwerkes selbst noch zum Kunstwerk dazu? 
Ich lese den Text einer Wagneroper. Ist das schon das fertige Kunstwerk oder ist das Kunstwerk erst "fertig", wenn es auf der Bühne inszeniert wird? Gehört nicht konstitutiv die Insznierung zum Kunstwerk der Oper dazu, sodaß man ein Textbuch der Oper eher als ein Rohmaterial des Kunstwerkes ansehen müßte als schon als das Kunstwerk selbst?
Wenden wir uns zeitgenössischerer Musik zu. Ein Livekonzert der Musikgruppe "Kreator"
als Video im Weltnetz vor Augen (Wacken 2005)), frage ich mich jetzt: Gehören die Hörer dieses Konzertes nun zum Kunstwerk selbst dazu oder nicht? Ist das Kunstwerk allein das gespielte Musikstück, oder gehören die das Stück Spielenden mit zum Kunstwerk?
Man beachte einfach mal, wie sich die Musiker auf der Bühne nicht einfach "zur Musik" sondern "in ihr" sich bewegen mit der Frage: Hat sich das Verhältnis des Musikers zu seinem Werk gändert, weil er nun selbst zum Teil des Werkes wird, sodaß dies auch eine geänderte Weise der Selbstpräsentation der Musiker erheischt?  
Höre ich mir das Musikstück auf einer CD an, verschwinden mir die Musikanten und ich könnte meinen, daß das Werk in seiner reinen Objektivität unabhängig von mir existiert. Aber wie ist das nun in dem Video des Livekonzertes? Setzt sich hier nicht das Gesamtkunstwerk zusammen aus den drei Elementen, den Musikern, der gespielten Musik und ihren Hörern? 
Könnte es sein, daß wenn ich eine Musik auf einer CD höre, ich einfach nur vergesse, daß der Künstler und der Zuhörer, also auch ich zum Gesamtkunstwerk dazugehören? Werden etwa die Töne der Musik erst im Hörerohr zu einer Musik? 
Fällt so gesehen das aus den Händen des Künstlers sich emanzipierende Kunstwerk nun nur  in die Hände des Lesers um einer Willkürdeutung des Rezipienten zu ermöglichen?  Wo bleibt da die Objektivität des Kunstwerkes, wenn es der Subjektivität des Künstlers entrissen
nun ganz der Subjektivität des Rezipienten unterworfen werden würde? Das setzt aber wieder voraus, daß wir das Lesen und Hören eines Kunstwerkes als etwas für das Kunstwerk selbst Gleichgültiges ansehen, als ruhte das Werk in sich ohne daß es von wem genossen wird.
Wenn das Kunstwerk, sobald es der Künstler entäußert, in die Hände der Rezipienten gerät, wird es dann erst zum Kunstwerk durch sein Rezipiertwerden und ist dann der Künstler als Ermöglichungsgrund einer solchen Rezeption selbst ein Bestandteil des Kunstwerkes?  
Hier fehlt jetzt offenkundig eine Theorie der menschlichen Wahrnehmung, inwieweit nämlich jedes menschliche Wahrnehmen immer auch ein Bearbeitungsprozeß des sinnlich Vermittelten durch die Vernunft des Menschen ist. Wie ist die Vernunft im Wahrnehmen von Kunstwerken selbst immer schon spontan produktiv tätig, bevor wir uns fragen: Was sagt mir dies Kunstwerk? Kunst wird ja von Menschen nicht nur sinnlich empfangen, denn dann wäre dies gar keine menschliche Wahrnehmung. 
So viele Unklarheiten und doch können wir Kunstwerke genießen!  
   

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